„Wohlstand muss erst erwirtschaftet werden, bevor er verteilt werden kann.“
Dieser Satz von Christian Lindner in der „Berliner Runde“ am Abend nach der Bundestagswahl 2021 klingt zunächst einleuchtend und anschlussfähig. Und doch basiert sie auf einer durchaus fragwürdigen Annahme. Und das, was durch die Aussage impliziert wird, ist gegenüber Millionen Menschen allein in Deutschland eine wirklich brutale – im Sinne von gewaltvolle – Falschbehauptung.
Die stille Voraussetzung
Lindner setzt unausgesprochen voraus, dass Wohlstand nicht gleichzeitig, also nicht zeitgleich erwirtschaftet und gerecht verteilt werden kann, denn darauf fußt die Logik seiner Aussage. Aber wo kommt diese Annahme her? Warum muss sich Wohlstand erst auf eine kleine Gruppe konzentrieren, bevor er – zumindest ein kleines bisschen – verteilt werden kann?
Umverteilung à la FDP
Selbst wenn man Lindners Voraussetzung akzeptiert, muss man sich fragen, was er meint, wenn er von Umverteilung spricht. Die FDP würde nämlich von sich aus überhaupt nicht an eine aktive Politik der Umverteilung oder des sozialen Ausgleichs denken. Stattdessen würde sie immer wieder das längst vielfach wissenschaftlich widerlegte Märchen vom Trickle-Down-Effekt erzählen und gekonnt übersehen, dass die Schere zwischen Armen und Reichen immer weiter auseinandergeht. Die Unterschiede zwischen den Vermögen und Einkommen der reichsten paar Prozent und denen der ärmeren 50 Prozent sind so grotesk groß, dass das Bild der Schere eigentlich längst nicht mehr passend erscheint.
Lindners Lüge
Mit der großen Kluft zwischen arm und reich kommen wir zu Lindners brutaler Lüge. Auch wenn Christian Lindner es nicht explizit sagt, impliziert seine Aussage eindeutig, dass der bisher erwirtschaftete Wohlstand noch nicht ausreichend sei, um ihn zu verteilen. Er findet also, dass die Reichen noch nicht reich genug sind, um mehr von ihrem Reichtum an die ärmere Hälfte der Bevölkerung abzugeben. Er findet gleichermaßen, dass die ärmere Hälfte der Bevölkerung noch nicht genug geschuftet, noch nicht genug Wohlstand – vor allem den Wohlstand Anderer – erwirtschaftet hat und dabei noch nicht genug ausgebeutet wurde.
Um es einmal konkret zu machen: Die 70 reichsten Menschen in Deutschland verfügten 2007 über mehr Vermögen als die ärmere Hälfte aller Erwachsenen, das heißt etwa 35 Millionen Menschen!
Was das mit Gewalt zu tun hat
Diese Ansicht, dass zunächst noch mehr Wohlstand erwirtschaftet werden muss, bevor er (weiter und gerechter) verteilt werden kann, muss man sich leisten können. Nur wer privilegiert genug ist und nicht selbst von der Ungerechtigkeit der absurd ungleichen Verteilung des Wohlstands betroffen ist, kann sich diese Ansicht leisten. Als jemand mit relativ großer Reichweite und politischer Macht – insbesondere als jemand der künftig mitregieren wird – verfügt Christian Lindner über eine extrem überdurchschnittliche Deutungsmacht. Aus dieser Machtposition heraus zu sagen, dass die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse, unter denen viele Millionen Menschen leiden, trotz des zum Teil extremen Reichtums in diesem Land unabdingbar seien, verschafft der strukturellen ökonomischen Gewalt, der diese Menschen ausgesetzt sind, eine vermeintliche Legitimität. Einen Zustand struktureller Gewalt wiederum aus einer privilegierten Machtposition heraus zu legitimieren, ist daher selbst ein gewaltvoller Akt.
Was daraus folgt
Dieser Satz Lindners zeigt, wofür die FDP ganz sicher nicht steht: für soziale Gerechtigkeit. Die FDP will den Reichtum der Reichen fördern und vor Umverteilung schützen.